Sucht man in den Suchmaschinen nach „Fake-History“ überrascht das Suchergebnis. Denn es kommen nun nicht Internetseiten, die parahistorische Forschung präsentieren, sondern Seiten, die über die Fehler der fälschenden Geschichtsschreibung aufklären wollen. „ourfakehistory.com„, auf Twitter @fakehistoryhunt oder die Einschätzung der The Guardian Kolumnistin Natalie Nougayrède, dass Fake History noch schlimmer als Fake News seien sind nur einige dieser aufklärerischen Projekte von Geschichtsamateuren. Eigentlich ist das Suchergebnis dann aber doch schlüssig, denn die paarhistorischen Autoren (es sind zum Großteil Männer) würden sich selbst nicht als Fälscher bezeichnen. Sie sind also mit dem Suchwort, das sie am ehesten charakterisiert nicht aufzufinden.
Parageschichtsschreibung und Fake-History sind eine Erscheinung, über die sich die professionelle, akademische Geschichtswissenschaft zunehmend Gedanken macht. Die – nennen wir sie mal akademische Geschichtsschreibung – muss sich selbst definieren und die Frage stellen: wie und welche Geschichte in Zeiten der Fake-History zu schreiben sei. Konferenzen und Workshops, Zeitschriftenaufsätze, Monografien und Sammelbände beschäftigen sich mit dem Thema. Historiker*innen, so die Auffassung, sind gut ausgebildet, um das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Besonders deutsche Historiker, die noch ihren Ahasver von Brandt gelernt und sich gegenüber poststrukturalistischen Modeerscheinungen als resistent erwiesen haben, wissen, wie sie eine authentische Quelle von einer gefälschten zu unterscheiden haben. Sie fühlen sich deswegen besonders berufen, echte von gefälschter Geschichte zu unterscheiden.
Im Grunde genommen ist die Überlegung wohl ganz stichhaltig, um entgegen die volksnah daherkommende Geschichtsfälschungsindustrie besonders neo-völkischer und neo-faschistischer Prägung eine fundierte Forschung in Stellung zu halten. Ja, es ist ein Kampf ausgebrochen, denn es geht auch um Verkaufszahlen und das Erreichen einer breiten Leserschaft. Es geht um Demokratie und den liberalen Geist, aus dem die Ranksche Wissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand. Es geht aber auch um die Verteidigung einer Disziplin, die besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wahrheitssuche und politischen Diskurs miteinander in Beziehung setzte—nicht selten zum Richter in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen berufen wurde, wie Norbert Frei und Kollegen im Sammelband Geschichte vor Gericht schreiben.
Ahasver von Brandt schrieb in der Einleitung in die Werkzeuge des Historikers: „Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist die Ermittlung eines möglichst umfassenden und möglichst zuverlässigen, ‚wahren‘ Geschichtsbildes, als der ‚geistigen Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt‘.“ Das hierin eingebaute Zitat stammt vom niederländischen Mittelalterhistoriker Johan Huizinga, der nach dem 2. Weltkrieg mit seinem Werk „Herbst des Mittelalters“ eine Kulturgeschichte Europas schrieb—inmitten der Ruinen und nach der Erfahrung des destruktiven und Schuld anhäufenden Ultra-Nationalismus‘. Brandts historisches Propädeutik hatte also eine europäische Dimension oder atmete zumindest einen europäischen Geist.
„Wahr“ setzte Brandt doch tatsächlich in Anführungszeichen, denn auch ihm war bewusst, wie wechselhaft Geschichtsschreibung und -perspektiven je nach vorherrschenden Zeiten sein können. Er hatte die NS-Zeit und deren Geschichtsverständnis als Archivar in Lübeck erlebt. Zeitgleich verbrachte der französische Historiker Fernand Braudel seine Gefangenschaft in der Hansestadt: ein Zufall, aber in Hinblick auf die hier behandelte Frage von Methodik und Wahrheitsanspruch von Geschichtsschreibung ein nützlicher. Wie kaum ein anderer Historiker seiner Zeit, war sich Braudel nämlich über die Bedeutung der Gegenwart für die Interpretation der Vergangenheit bewusst: „Woran wir uns hier versucht haben, ist die Wiedereröffnung des Austauschs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der Grenzübergänge von der einen zur anderen und wieder zur einen, ein beständiges Rezitativ zweier durch nichts eingeschränkter Stimmen.“ Das schrieb er (in der Übersetzung von Markus Jakob) 1985 bzw. 1987 in der Einleitung zum Sammelband Die Welt des Mittelmeers.
Braudels Mittelmeer war die niedergeschriebene Beobachtung des Aktuellen als das Ergebnis langer historischer Entwicklungen. Seewege, Olivenplantagen, Bauweisen – all das konnte noch beobachtet werden und dann historisch interpretiert werden. Sein Dialog des Vergangenen mit der Gegenwart war keiner, in dem das Vergangene durch die Gegenwart eingezwängt und zurechtgerückt wurde. Seine Geschichte war eine hinleitende, durchaus überkomplexe Geschichtsschreibung mit zig Einflüssen. Sie ist ein Hin und Her, sie ist Vermischung, sie ist das Auf-Uns-Gekommene, nicht das Von-Uns-Gemachte.
Brandt’s Werkzeug des Historikers ähnelt im Titel dem Ausspruch von Marc Bloch, über die Werkzeuge, die sich Historiker bedienen könnten, um aus der Vergangenheit eine Erkenntnis zu gewinnen. Der französische Historiker, der als Widerstandskämpfer gegen die NS-Besatzung erschossen wurde, verstand den Beruf des Historikers als ein Erlernen dieser Werkzeuge, und davon, wie und wann sie anzuwenden seien.
Es liegt am aufmerksamen Beobachter, am Spaziergänger durch die Stadt, wie Karl Schlögel am Beispiel von Sankt Petersburg, um Geschichte als Verbunden mit dem Gegenwärtigen zu erkennen und die Methoden und Werkzeuge zu nutzen, mit denen von einer zeitgenössischen Oberfläche in die zeitliche Tiefe hineingeforscht werden kann. Und genau hier liegt der grundsätzliche Unterschied zur Fake-History: Diese macht aus einer komplexen Vergangenheit eine eingeschränkte Erzählung. Sie erkennt nicht das Geschichtliche in der Gegenwart, sondern macht eine Perspektive der Gegenwart zu einer pseudohistorischen Erzählung. Fake-History sucht nicht den Dialog der Zeiten, der Kulturen und der Interpretationen, sondern macht aus ihrer Interpretation ein Werkzeug im politischen Kampf.
Geschichtsfälschung könnte man also als eine eigenwillige Interpretation der Vergangenheit durch eigenwillige Belange des Gegenwärtigen bezeichnen. Eigenwillig deswegen, weil sie eben nicht umfassend forscht, und keinesfalls nach Zuverlässigkeit oder nach einer gewissen Wahrheit strebt. Und dennoch ist sie wirkmächtig – zumindest in einigen Kreisen. Als Berufshistoriker macht es da vielleicht wenig Sinn, sich mit den Gründen für den Erfolg dieser Pseudogeschichtsschreibung zu befassen. Es erscheint ein Komplex aus politischer Dynamik, individueller Destruktivität, schlechtem Geschichtsunterricht, die zeitgeistige Lust am Mythischen usw. usf.
Besonders kann die Historikerin und der Historiker da ansetzen, wo es die eigene Produktion von Wissenschaft selbst zu beeinflussen ist. Aus der Geschichtswissenschaft gilt es, Narrative zu entwickeln und Themenbereiche zu eröffnen, die das Zeug haben, in die Zukunft zu weisen, die mit der Gegenwart mithalten, ohne die eigene Vergangenheit (und eigene Geschichtlichkeit) zu vergessen. Was ist denn die Geschichte Europas jenseits einer Wertegemeinschaft oder einer mythisch wirkenden christlichen Einheit? Was ist mit der veränderlichen Beziehung von Mensch und Natur? Was ist digitale Geschichte? Welche Rolle spielten Staatswesen in ihren unterschiedlichen Formen in der Vergangenheit? Wie veränderten sich Beziehungen und Wahrnehmungen zum „Fremden“? Worin unterscheidet sich die nationale Sicht auf Geschichte von inter- und transnationalen Perspektiven? Was kann interkulturelle Geschichte leisten in Zeiten von neo-nationaler und neo-ethnischer Legendenbildung?