Die Vielfalt Europas – Gegenwart und Geschichte / Europe’s Diversity – Presence and History

In diesen Tagen, in denen die Kulturessentialisten wieder die Debattenhoheit zu erobern suchen, gerät Geschichte als stetiger Wandel durch Vermischungen in Vergessenheit: Ein Kreuz auf dem rekonstruierten Berliner Stadtschloss muss nicht sein – es ist die Affirmation derer die den Wandel nicht wahrhaben wollen (wie die Rekonstruktion insgesamt). Nicht zu überhören sind die Verteidiger des Abendlands, die allerorten die christlichen Werte als rhetorische Monstranzen vor sich her tragen, ohne jedoch zu präzisieren, welche sie denn nun meinen: den Kampf gegen Andersgläubige, die Missionierung, die Nächstenliebe? Und weil diese Werte dann schnell nur als Anleitung zur Verteidigung fungieren, jedoch nicht als Handlungsleitlinien, ertrinken Menschen auf dem Mittelmeer, ist das ererbte Vermögen wichtiger als die soziale Gerechtigkeit oder eine Maske wird zum Streitapfel.

In der derzeitigen Lage, in der jede/r sich gegen andere wehren muss (oder glaubt, sich wehren zu müssen), steht die Frage nach der Urschuld wieder im Vordergrund. Die immer handgreiflicher geführten Auseinandersetzungen führen zu einer allgemeinen Paranoia und Untergangsphantasien, die die jeweiligen Abwehrreflexe noch zu verstärken scheinen. Es ist ein Kreislauf in Gang gesetzt, den aufzuhalten wohl mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird.

Auf der anderen Seite scheint diese Dynamik aus Abwehr und Abgrenzung eine Verstärkung und Beschleunigung zu beinhalten, die ich in meinem Buch „Geschichte des mestizischen Europas“ (erscheinen bei Springer 2019) beschreibe. Einige Gruppen und Gesellschaftsteile grenzen sich gegen Gruppen und Gesellschaftsteilen ab, und manchmal wollen sie sie sogar vernichten. Aber welcher Vorgang liegt dem zugrunde? Zum einen ist es Angst, die beispielsweise als Erklärung der heutigen Islamophobie angeführt wird. Mir scheint außerdem die Kenntnis über die Anderseits ein Antriebsgrund zu sein. Die Gruppen kennen sich gegenseitig, sie wissen, dass es sie gibt und dass es vielfältige Beziehungen, Überschneidungen und sogar Austausch gibt.

Keine gesellschaftliche Gruppe existiert für sich allein. Und das gegenseitige Beobachten ist Teil der sozialen Interaktion zwischen den Teilen eines definierten Ganzen. Was kann die Geschichtswissenschaft leisten? Sie kann zeigen, wie auch aktuelle Gesellschaften mit ihrer Vielfältigkeit umgehen können. Sie muss weg von einer Geschichte der Nation und hin zu einer Geschichte de Vermischung. Denn die Nation ist immer nur die definierte Einheit, nie aber der eindeutige soziale und kulturelle Raum, der von Politik und Geschichtsschreibung definiert wurde.


In these days, in which the essentialists of culture are trying to regain the sovereignty of debate, history (where mixing causes a constant change) seems to fall into oblivion: a crucifix on the reconstructed Berlin Stadtschloss is not necessary – it is the affirmation of those who do not want to accept the change (like this reconstruction in general). The defenders of the Occident cannot be overheard, who everywhere display Christian values as rhetorical monstrances, without, however, specifying which ones they mean: the fight against those of different faith, missionary work, love of the next? Since these values serve quickly only as guidelines for defence, but not as guidelines for good behaviour, people are drowning in the Mediterranean, inherited wealth is more important than social justice, or a mask becomes an apple of discord.

In the current situation, in which everyone has to (or thinks he has to) defend himself against others, the question of original guilt is once again in the foreground. The increasingly violent conflicts lead to a general paranoia and fantasies of doom, which seem to strengthen the respective defensive reflexes. A cycle has been set in motion that will probably take several years to stop.

On the other hand, this dynamic of defence and demarcation seems to contain a strengthening and acceleration, which I describe in my book „History of mestizo Europe“ (published by Springer in 2019). Some groups and parts of a society differentiate themselves from groups and parts of a society, and sometimes they even want to destroy them. But which is the underlying process? On the one hand, it is fear, which is cited as an explanation for today’s Islamophobia, for example. It also seems to me that knowledge of the other side is a motivating factor. The groups know each other, they know that they exist and that there are many relationships, overlaps and even exchanges.

This shows that no social group exists on its own. And mutual observation is part of the social interaction between the parts of a defined whole. What can the historiography achieve? It can show how even current societies can deal with their diversity. The society must move away from a history of the nation and toward a history of mixing.For the nation is always only the defined unit, but never the unambiguous social and cultural space defined by politics and conventional historiography.

Umwelt und Mission

„Ueberall bekämpft die Mission die Trägheit. Sie erzieht die Naturvölker zur Seßhaftigkeit und zum Ackerbau, vermehrt den Productenreichthum der Länder, bahnt einen soliden Handel an und begründet auf diese Weise auch einen äußeren Wohlstand. … überall erheben sich neben der Wohnung des Missionars jetzt nette, reinliche Häuschen. Man fängt an sich anständig zu kleiden; weite Strecken Land werden cultivirt; der Pflug ist eingeführt, Wege und Straßen werden gebaut, eine regelmäßige Postverbindung ist eingerichtet; der Handel namentlich mit Mais beträchtlich…“

Dieses Zitat aus Gustav Warneck zeigt nicht nur, wie sich die Berliner Missionsgesellschaft als eine der Wirtschaft und dem Staat verpflichtete Gesellschaft verstand. Es zeigt sich außerdem, wie sehr Missionsunternehmen in die natürlichen Bedingungen der Missionsgebiete eingriffen: durch Landwirtschaft, Infrastruktur oder die Einführung neuer Pflanzen – wie dem Mais – veränderten Missionare die Umwelt.

Ich habe mit einem neuen Forschungsvorhaben zur Umweltgeschichte der christlichen Missionen in europäischen Kolonien begonnen, das auch starke wissenshistorische Komponente hat. Es geht um die Arten, wie Missionare Wissen über die Natur zusammentrugen und darstellten, in der sie lebten und arbeiteten. Dieses Wissen steht zweifelsohne in einem Bezug zur Missionsarbeit, denn nur mithilfe des Wissens von natürlichen Gegebenheiten, war es Missionaren möglich in den neuen Landstrichen zu überleben und ein sich selbst tragendes Gemeinwesen zu leiten. Das Auskommen dieser (teilweisen neu etablierten) missionarischen Gemeinwesen wurde durch eine mit europäischen Nutzpflanzen und -tieren zumindest durchmischte Landwirtschaft gesichert. Straßenbau, der Bau von Brücken, die Nutzung von Rohstoffen zum Bau von Häusern, Kirchen und Wirtschaftsgebäuden, die Eröffnung neuer Landstriche für andere Europäer sind einige Beispiele für die Wirkung von Mission auf ‚natürliche‘ Prozesse. Neue, europäische Arbeitsprozesse in der Landwirtschaft und die Verbreitung von europäischen Nutzpflanzen waren dabei Teil einer Zivilisierungsideologie, die im 19. Jahrhundert in vielen Bereichen der Kolonialpraxis europäischer Staaten vorhanden war.

Die Landnutzung beeinflusste also die soziale Ordnung und die räumliche Ordnung: Wie die CMS-Missionare John Henry Bernau in British Guayana oder John Hines in Kanada hervorhoben: Die räumliche Konzentration von Dorf und Feldern schaffte für beide Missionare die Gelegenheit, ihre Bekehrungsarbeit voranzutreiben und die Bewohner beieinander zu halten. Und auch William Cockran, der seine Zielgruppe über mehrere Wochen durch die westkanadische Wildnis begleitet hatte, überredete die verschiedenen Familienverbände schließlich, ihre Lebensweise zu ändern und anstelle der Wanderungen ein sesshaftes Leben mit Landwirtschaft zu beginnen.

Aus diesen und vielen anderen Dokumenten der Church Mission Society, die im Archiv der Universitätsbibliothek von Birmingham lagern, war die Landwirtschaft nach dem Bau von Häusern und Kirchen die dritte Säule einer erfolgreichen Missionssiedlung, manchmal ging die Anlage von Feldern sogar der Errichtung von Gebäuden voraus, um schon frühzeitig eine Ernte einfahren zu können. Denn solange die Station sich selbst nicht versorgen konnte, war sie von Geldspenden und Zuweisungen der Missionsorganisation, der Kolonialverwaltung oder von Privatpersonen abhängig. Ihr Erfolg wurde im gleichen Maße an der erreichten wirtschaftlichen Autarkie oder Marktstellung gemessen, wie an den materialisierten Symbolen der Häuser und Kirchen. Die Landwirtschaft war der erste und häufig der wichtigste Zweig der Missionswirtschaft. Sie erfüllte die grundlegenden Bedürfnisse, Hungersnöte zu vermeiden und Bewohner an den Ort der Missionssiedlung zu binden.

War das Dorf angelegt, dann unterhielten Viele – auch aus Gründen der Eigenversorgung – einen eigenen Garten, den Missionsgarten, der wohl vielfältige Funktionen erfüllte: Erstens waren der Garten ein Vorbild für die Landwirtschaft des Dorfes. In ihnen konnte der Missionar sein Können beweisen und den Nutzen vor Augen stellen, welcher eine kleine Landwirtschaft für das Leben eines Christen besaß. Vielleicht diente er zweitens dazu, die Überlegenheit des eigenen Wissens von europäischer Landwirtschaft zu unterstreichen. Drittens konnte der Missionar verschiedene Pflanzen ausprobieren, denn es bestand nicht allerorten eine Erfahrung damit, wie eine europäische Feldwirtschaft, vielleicht sogar mit europäischen Feldfrüchten funktionieren könnte. Viertens war ein solcher Garten dem Missionar eine willkommene Möglichkeit, ein wenig Heimat in der Abgeschiedenheit der Missionsstation zu etablieren. Der von Europa Getrennte versuchte hier, ihm bekannte Nutz- und Zierpflanzen zu ziehen.

So ein Missionsgarten wirkte sich grundlegend auf die Umwelt aus. Denn mit der europäischen Bodennutzung und dem Einführen von europäischen Pflanzen und Nutzpflanzen, veränderten sich Bodenbeschaffenheit und Flora. Damit trug die Mission auch dazu bei durch diese Neophyten endemische Nutzpflanzen zurückzudrängen und damit den Pflanzenbestand einer Region nachhaltig zu verändern.

Die Anlage von Siedlungen, die Landwirtschaft, die Einführung von Tieren und Nutzpflanzen, der Infrastrukturbau und eine durch Biologie, Geografie und Geologie geprägtes Naturverständnis wirkten sich auf die Umwelt in den Missionen aus. So wirkten sich die Missionen weltweit auf die jeweilige Umwelt aus und banden die vielen Orte ein in eine globale Transformation von Umwelt im kolonialen Zeitalter. Dabei lassen sich Beispiele aus den Missionen in den spanischen Kolonien in Amerika und den Philippinen genauso untersuchen, wie die britischen Missionen in Kanada oder eben die Berliner Mission in Südafrika, über die der am Anfang zitierte Gustav Warneck schrieb. Ich bin gespannt, was aus der Forschung herauskommen wird…

Katholische Mission im südlichen Sudan (1848–1960)

In den über 100 Jahren seit dem Beginn der katholischen Missionsarbeit unter den Missionaren Ryllo und Knoblehar bis zur Unabhängigkeit des Sudans zeigen sich zwei wichtige Konstanten: Die Missionsarbeit hätte nich überlebt, wenn die internationale Unterstützung und die sudanesische Leitungsschicht gefehlt hätten. In meinem Buch „Die missionarische Gesellschaft“ (2011) und in zwei Aufsätzen zur Geschichte der katholischen Mission im südlichen Sudan arbeite ich diese beiden Aspekte heraus.

Ignaz Knoblehar

Die internationale Unterstützung ist für ein Unternehmen, das eng mit kolonialer Expansion verbunden ist, nicht weiter überraschend. Vielleicht erscheint das Engagement des österreichischen Kaiserreichs zu Beginn einigermaßen ungewöhnlich. Die häufig aus österreichischen Ländern stammenden Missionare (Ryllo – Galizien, Knoblehar – Slowenien, Mitterutzner – Tyrol, Comboni – Lombarde) teilten ihre Erfahrung, mittels der katholischen Kirchenhierarchie den Nachteil ausgleichen zu können, einer der nationalen Minderheiten des Vielvölkerstaats anzugehören. Diese Erfahrung vermittelten sie auch im Südsudan: Ihre Arbeit konzentrierte sich auf die Ausbildung und die Schulung eines Leitungspersonals, das sich aus den ethnischen Gruppen der Region rekrutierte. Die Dinka und Bari, aber auch andere Gruppen, waren zunehmend unter den Druck aus Khartoum gekommen. Diese expansive Arabisch sprachige, mit dem Pasha in Alexandria verbündete Macht beendet die politische, kulturelle und religiöse Eigenständigkeit der Gruppen. Die Missionare versuchten nun, eine Gegenmacht aufzubauen, gründeten Schulen, lehrten das Christentum und europäische Sprachen und versuchten, in Europa weitere Unterstützer für dieses Projekt zu gewinnen.

Saturnino Ohure/Lohure Hilangi

Der Konflikt zwischen dem Süden des Sudans und dem hauptsächlich muslimischen Norden mit der Hauptstadt Khartoum, zeigt sich also schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die kulturellen Unterschiede zwischen diesen Gebieten wurden durch das Wirken der Missionare um den Gegensatz einer teilweise christlich bekehrten Minderheit zur arabisch-muslimischen Herrschaft verstärkt. Diese Auseinandersetzung zeigte sich auch in der Unabhängigkeitsbewegung in den 1960er Jahren, in der die Aktivisten und Kämpfer aus dem Süden häufig aus dem Milieu der Missionen stammten und sich gegen eine Dominanz des islamischen Nordens wandten. In den Missionen hatte sich nämlich eine Gruppe von sehr gut ausgebildeten Leuten bilden können: Sie hatten die Missionsschulen in den Dörfern und eine der verschiedenen weiterführenden Schulen im Südsudan besucht. Nun strebten sie entweder in der Kirchenorganisation oder im zivilen Leben nach einflussreichen Stellungen, was ihnen zum Teil von europäischen Missionaren, zum Teil von arabischen Beamten versagt wurde.

Nachzulesen sind die Geschichten in:
Helge Wendt (2011). Die Missionarische Gesellschaft. Mikrostrukturen einer kolonialen Globalisierung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Helge Wendt (2018). Central European Missionaries in Sudan. Geopolitics and Alternative Colonialism in Mid-Nineteenth Century Africa, in: European Review 26, 3, pp.1–11 doi:10.1017/S1062798718000182.
Three Steps into an Independent Catholic Church Organization in South Sudan. Decoloniality in a Colonial Environment (1848–1974). Mission und dekoloniale Perspektive, hg.v. Ulrich van der Heyden und Helge Wendt. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020.

 

Geschichtsschreibung in Zeiten der Fake-History

Sucht man in den Suchmaschinen nach „Fake-History“ überrascht das Suchergebnis. Denn es kommen nun nicht Internetseiten, die parahistorische Forschung präsentieren, sondern Seiten, die über die Fehler der fälschenden Geschichtsschreibung aufklären wollen. „ourfakehistory.com„, auf Twitter @fakehistoryhunt oder die Einschätzung der The Guardian Kolumnistin Natalie Nougayrède, dass Fake History noch schlimmer als Fake News seien sind nur einige dieser aufklärerischen Projekte von Geschichtsamateuren. Eigentlich ist das Suchergebnis dann aber doch schlüssig, denn die paarhistorischen Autoren (es sind zum Großteil Männer) würden sich selbst nicht als Fälscher bezeichnen. Sie sind also mit dem Suchwort, das sie am ehesten charakterisiert nicht aufzufinden.

Parageschichtsschreibung und Fake-History sind eine Erscheinung, über die sich die professionelle, akademische Geschichtswissenschaft zunehmend Gedanken macht. Die – nennen wir sie mal akademische Geschichtsschreibung – muss sich selbst definieren und die Frage stellen: wie und welche Geschichte in Zeiten der Fake-History zu schreiben sei. Konferenzen und Workshops, Zeitschriftenaufsätze, Monografien und Sammelbände beschäftigen sich mit dem Thema. Historiker*innen, so die Auffassung, sind gut ausgebildet, um das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Besonders deutsche Historiker, die noch ihren Ahasver von Brandt gelernt und sich gegenüber poststrukturalistischen Modeerscheinungen als resistent erwiesen haben, wissen, wie sie eine authentische Quelle von einer gefälschten zu unterscheiden haben. Sie fühlen sich deswegen besonders berufen, echte von gefälschter Geschichte zu unterscheiden.

Im Grunde genommen ist die Überlegung wohl ganz stichhaltig, um entgegen die volksnah daherkommende Geschichtsfälschungsindustrie besonders neo-völkischer und neo-faschistischer Prägung eine fundierte Forschung in Stellung zu halten. Ja, es ist ein Kampf ausgebrochen, denn es geht auch um Verkaufszahlen und das Erreichen einer breiten Leserschaft. Es geht um Demokratie und den liberalen Geist, aus dem die Ranksche Wissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand. Es geht aber auch um die Verteidigung einer Disziplin, die besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wahrheitssuche und politischen Diskurs miteinander in Beziehung setzte—nicht selten zum Richter in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen berufen wurde, wie Norbert Frei und Kollegen im Sammelband Geschichte vor Gericht schreiben.

Ahasver von Brandt schrieb in der Einleitung in die Werkzeuge des Historikers: „Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist die Ermittlung eines möglichst umfassenden und möglichst zuverlässigen, ‚wahren‘ Geschichtsbildes, als der ‚geistigen Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt‘.“ Das hierin eingebaute Zitat stammt vom niederländischen Mittelalterhistoriker Johan Huizinga, der nach dem 2. Weltkrieg mit seinem Werk „Herbst des Mittelalters“ eine Kulturgeschichte Europas schrieb—inmitten der Ruinen und nach der Erfahrung des destruktiven und Schuld anhäufenden Ultra-Nationalismus‘. Brandts historisches Propädeutik hatte also eine europäische Dimension oder atmete zumindest einen europäischen Geist.

„Wahr“ setzte Brandt doch tatsächlich in Anführungszeichen, denn auch ihm war bewusst, wie wechselhaft Geschichtsschreibung und -perspektiven je nach vorherrschenden Zeiten sein können. Er hatte die NS-Zeit und deren Geschichtsverständnis als Archivar in Lübeck erlebt. Zeitgleich verbrachte der französische Historiker Fernand Braudel seine Gefangenschaft in der Hansestadt: ein Zufall, aber in Hinblick auf die hier behandelte Frage von Methodik und Wahrheitsanspruch von Geschichtsschreibung ein nützlicher. Wie kaum ein anderer Historiker seiner Zeit, war sich Braudel nämlich über die Bedeutung der Gegenwart für die Interpretation der Vergangenheit bewusst: „Woran wir uns hier versucht haben, ist die Wiedereröffnung des Austauschs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der Grenzübergänge von der einen zur anderen und wieder zur einen, ein beständiges Rezitativ zweier durch nichts eingeschränkter Stimmen.“ Das schrieb er (in der Übersetzung von Markus Jakob) 1985 bzw. 1987 in der Einleitung zum Sammelband Die Welt des Mittelmeers.

Braudels Mittelmeer war die niedergeschriebene Beobachtung des Aktuellen als das Ergebnis langer historischer Entwicklungen. Seewege, Olivenplantagen, Bauweisen – all das konnte noch beobachtet werden und dann historisch interpretiert werden. Sein Dialog des Vergangenen mit der Gegenwart war keiner, in dem das Vergangene durch die Gegenwart eingezwängt und zurechtgerückt wurde. Seine Geschichte war eine hinleitende, durchaus überkomplexe Geschichtsschreibung mit zig Einflüssen. Sie ist ein Hin und Her, sie ist Vermischung, sie ist das Auf-Uns-Gekommene, nicht das Von-Uns-Gemachte.

Brandt’s Werkzeug des Historikers ähnelt im Titel dem Ausspruch von Marc Bloch, über die Werkzeuge, die sich Historiker bedienen könnten, um aus der Vergangenheit eine Erkenntnis zu gewinnen. Der französische Historiker, der als Widerstandskämpfer gegen die NS-Besatzung erschossen wurde, verstand den Beruf des Historikers als ein Erlernen dieser Werkzeuge, und davon, wie und wann sie anzuwenden seien.

Es liegt am aufmerksamen Beobachter, am Spaziergänger durch die Stadt, wie Karl Schlögel am Beispiel von Sankt Petersburg, um Geschichte als Verbunden mit dem Gegenwärtigen zu erkennen und die Methoden und Werkzeuge zu nutzen, mit denen von einer zeitgenössischen Oberfläche in die zeitliche Tiefe hineingeforscht werden kann. Und genau hier liegt der grundsätzliche Unterschied zur Fake-History: Diese macht aus einer komplexen Vergangenheit eine eingeschränkte Erzählung. Sie erkennt nicht das Geschichtliche in der Gegenwart, sondern macht eine Perspektive der Gegenwart zu einer pseudohistorischen Erzählung. Fake-History sucht nicht den Dialog der Zeiten, der Kulturen und der Interpretationen, sondern macht aus ihrer Interpretation ein Werkzeug im politischen Kampf.

Geschichtsfälschung könnte man also als eine eigenwillige Interpretation der Vergangenheit durch eigenwillige Belange des Gegenwärtigen bezeichnen. Eigenwillig deswegen, weil sie eben nicht umfassend forscht, und keinesfalls nach Zuverlässigkeit oder nach einer gewissen Wahrheit strebt. Und dennoch ist sie wirkmächtig – zumindest in einigen Kreisen. Als Berufshistoriker macht es da vielleicht wenig Sinn, sich mit den Gründen für den Erfolg dieser Pseudogeschichtsschreibung zu befassen. Es erscheint ein Komplex aus politischer Dynamik, individueller Destruktivität, schlechtem Geschichtsunterricht, die zeitgeistige Lust am Mythischen usw. usf.

Besonders kann die Historikerin und der Historiker da ansetzen, wo es die eigene Produktion von Wissenschaft selbst zu beeinflussen ist. Aus der Geschichtswissenschaft gilt es, Narrative zu entwickeln und Themenbereiche zu eröffnen, die das Zeug haben, in die Zukunft zu weisen, die mit der Gegenwart mithalten, ohne die eigene Vergangenheit (und eigene Geschichtlichkeit) zu vergessen. Was ist denn die Geschichte Europas jenseits einer Wertegemeinschaft oder einer mythisch wirkenden christlichen Einheit? Was ist mit der veränderlichen Beziehung von Mensch und Natur? Was ist digitale Geschichte? Welche Rolle spielten Staatswesen in ihren unterschiedlichen Formen in der Vergangenheit? Wie veränderten sich Beziehungen und Wahrnehmungen zum „Fremden“? Worin unterscheidet sich die nationale Sicht auf Geschichte von inter- und transnationalen Perspektiven? Was kann interkulturelle Geschichte leisten in Zeiten von neo-nationaler und neo-ethnischer Legendenbildung?

Akademie der Wissenschaften in Kuba

Die Eingangshalle der Akademie mit der Büste des Arztes und Forschers Carlos Finlay

Das eine Kuba mit seinen Stränden, Bars, der schönen Landschaft und den Ausflügen auf die Zuckerplantagen lässt viele vergessen, wie reich die Wissenschaftsgeschichte des Landes ist. Ich konnte kurz in der Akademie der Wissenschaften forschen und dort zu einigen meiner Forschungsprojekten Dokumente einsehen. Die Akademie ist seit einiger Zeit wieder aus dem Sitz im Capitolio zurück in das Haus gezogen, wo sie 1861 gegründet worden war. Das Capitolio wird nun wieder Sitz des kubanischen Parlaments und das Akademie wird langsam von einem Museum in eine Forschungsstätte umgewandelt. Die Bibliothek bildet die bewegte Geschichte Kubas nach: Die ersten vier Jahrzehnte existierte die Akademie unter spanischer Kolonialherrschaft. Dann wurde die Insel und die Wissenschaftsintitution stark von den USA beeinflusst. Nach der Revolution von 1959 findet sich in den Beständen viel russischsprachige Literatur wieder. Neuere Drucke, besonders internationale Titel aus den letzten zwei Jahrzehnten finden sich jedoch kaum.

Die Bibliothek und das Archiv der Academia de Ciencias ist besonders reich an Manuskripten und Nachlässen der kubanischen Forscher. Mit Carlos Finlay, der den Ehrenplatz im Vestibül hat, steht ein Schwerpunkt: Medizinforschung. Aber auch in Physik, Chemie und Biologie hat die Akademie immer wieder hervorragende Forscher aufgenommen, deren Nachlässe nun einsehbar sind.

Ich konnte ein wenig zur Geschichte der geologischen Forschung und zur Physikgeschichte auf der Insel forschen. Schließlich interessiert mich ja weiterhin die Geschichte der Kohle auf Kuba. Und das Projekt zur Physikgeschichte auf Kuba geht weiter!

Geschichte des mestizischen Europas

NEUERSCHEINUNG 2019:

Hier geht es zum E-Book

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Geschichte des mestizischen Europas.
Vermischung als Leitkategorie europäischer Geschichtsschreibung

Vermischung ist ein Konzept, das hauptsächlich in der französischen, teilweise auch in der spanischsprachigen Kolonialgeschichtsschreibung sowie in einigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten entwickelt und verwendet wurde und unter den Begriffen métissage oder mestizaje gefasst wurden. Es setzt sich besonders mit kolonialen Kontexten auseinander. Im gängigen Sprachgebrauch bezeichnet Métissage oder Vermischung den Zustand des Vermischten und den Prozess des sich Vermischens. Zuallererst biologisch als frühe Form von Rassismus für administrative Zwecke im kolonialen Raum auftauchend, konnte Métissage, historiografisch konzeptualisiert, auch für kulturhistorische Fragestellungen überzeugende Untersuchungsergebnisse liefern, die beispielsweise Vermischungsprozesse im religiösen und sozialen Leben oder in darstellender Kunst erforschte.

Für den vorliegenden Essay werden die Möglichkeiten dieses erweiterten Konzepts der Métissage erprobt, indem es an Beispielen jenseits der Kolonialgeschichte angewendet wird. Im Zentrum der Betrachtung stehen Themen aus der europäischen Geschichte sowie einige Arbeiten der europäischen Geschichtsschreibung. Das Ziel der Untersuchung ist es, die Nützlichkeit einer Diversifizierung von historischen Gegenständen aus der europäischen Geschichtsschreibung zu verifizieren. Gleichzeitig wird auch untersucht, wie sich die europäische Geschichtswissenschaft in der globalen Wissenschaftslandschaft neuen, von außen kommenden Einflüssen öffnen und sich, indem sie diese Einflüsse aufnimmt, weiter entwickeln kann.

Die zweite Motivation ist die Frage, inwieweit Vermischungsprozesse in der Historiografie bisher thematisiert wurden. Die hier angestellten Überlegungen gehen nicht von der Annahme aus, dass in älterer oder neuerer Geschichtsschreibung Vermischungen und Vermischungsprozesse nicht behandelt worden wären. Ganz im Gegenteil wird angenommen (und ausführlich besprochen werden), dass Ansätze von Vermischungsnarrativen im Rezeptions- und Produktionskontext verschwunden sind, weil Diskursen der Eindeutigkeit und „Entmischung“ Vorrang eingeräumt wurde. Deswegen ist die Analyse von bestehender Literatur über Themen der europäischen Geschichte so wichtig: Es wird eine unterreflektierte Traditionslinie europäischer Geschichtsschreibung in den Vordergrund gebracht.

Das Buch ist als Softcover erhältlich. Es kann aber auch als E-Book gelesen werden.

Druckfrisch im Karton: Vor lauter Freude habe ich gleich ein Bild der Belegexemplare gemacht (Feb. 2019).

Ein DDR-Tropenforschungsinstitut in Kuba (1963–1978)

Nachdem in Kuba die Rauchschwaden der Revolution sich gelegt hatten und die Regierung unter Fidel Castro auch die Wissenschaftsakademie zu Havanna umgekrempelt hatte, schlossen 1963 die Ost-Berliner Deutsche Akademie der Wissenschaften (DAW) und die Academía de Ciencia de Cuba ein Kooperationsabkommen.

Aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie (Berlin) konnte ich ein wenig die Geschichte rekonstruieren, in welcher Art und mit welchen Themen sich die DAW in Kuba engagierte. Das Engagement wurde damals so verstanden, dass eine Art Entwicklungshilfe für die kubanische Wissenschaft betrieben wurde. Diese sollte und konnte jedoch nicht uneigennützig sein. Denn erstens war das Engagement für die DAW und das Wissenschaftsministerium der DDR sehr kostspielig und zweitens waren die eigenen Mittel äußerst begrenzt.

Zu Beginn wurden deswegen sieben Felder definiert, auf denen die DAW eigene Forschung in Kuba aufbauen wollte:

1. Einrichtung einer seismischen Station durch das Institut für Bodendynamik der Erdbebenforschung in Jena
2. Für den Fall der Einrichtung eines Tropenforschungsinstituts der DDR Aufnahme einer marinebiologischen Arbeits- und Forschungseinrichtung
3. Informationsaustausch und Sammlung von Erfahrungen über die tropen-medizinische Situation in Kuba. …
4. Bearbeitung von Fragen des Landschaftshaushaltes, des Ablaufs morphologischer Prozesse und anderer grundsätzlicher Fragen, die z.T. in das Gebiet der ökonomischen Geographie reichen …
5. Zusammenarbeit auf botanischem und zoologischem Gebiet…
6. Hilfe bei der Erarbeitung einer kubanischen Kulturgeschichte…
7. Korrosions- und Klimaprüfungen an Erzeugnissen und Werkstoffen der DDR

Letztendlich konnte die DAW die Aufgabe nicht alleine stemmen und holte sich mit der Akademie für Landwirtschaft der DDR noch einen weiteren Partner mit an Bord – schließlich war das Thema der Tropenlandwirtschaft und der Beständigkeit von in der DDR gebauten Landwirtschaftsmaschinen im tropischen Klima auch wirtschaftlich wichtig.

Leiter der Einrichtung, die kurz „Tropenforschungsinstitut“ hieß, offiziell aber den Namen Alexander von Humboldt trug, wurde der Chemiker Horst Sinnecker, der ein Spezialist auf dem Feld von Nickel und Laterit war. Nickel war in der DDR Mangelware, auf Kuba aber in großen Mengen vorhanden – auch bei der Berufung Sinneckers waren also wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend.

Das Institut wurde nie umfassend eingerichtet. Vor allem aus Kostengründen, blieben Posten unbesetzt, die Labore wurden nur teilweise bestückt und einige der Forschungsprojekte nie bearbeitet. Einige Themen flossen in die multilateralen Forschungskooperationen innerhalb des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, Comecon) ein. Ende der 1970er Jahre konzentrierten sich die Kooperationen dann auf den kubanischen Versuchsreaktor von Juraguá sowie einige geophysische Projekte.

Die vollständige Untersuchung habe ich veröffentlicht in:
Scientific Cooperation Between the German Academy of Sciences in Berlin (DAW) and Cuba in the 1960s and 1970s, in: A. Baracca, J. Renn und H. Wendt (Hgg.), History of Physics in Cuba, Boston: Springer 2014, 387–393.

Steinkohle und Krieg: Akadien

Krieg für Öl – so lautete der Vorwurf an die USA, als sie 1990 und 2003 Krieg gegen den Irak führten. Dass Kriege zur Sicherung von Rohstoffen geführt werden, ist dabei nicht neu, aber historisch vielleicht ein wenig unterbeleuchtet. In einem Aufsatz habe ich mir die Aufgabe gestellt, den Nachweis zu erbringen, dass relativ zum Beginn der Expansion Englands auf dem nordamerikanischen Kontinent ein Krieg um einen speziellen Rohstoff stand.

Um die Jahrhundertwende 1700 hatten die Franzosen im heute zu Kanada gehörenden Insel- und Halbinselarchipel von Cape Breton, Neuschottland und Akadien Steinkohle entdeckt. Franzosen hatten damals relativ wenig Erfahrung mit diesem Brennmaterial, aber einige fingen an, danach zu graben. Das gefiel den Engländern weiter südlich, denn sie kannten den Rohstoff schon seit Jahrhunderten: Waffenbauer, Schmiede, Bierbrauer – all diese Berufsgruppen nutzten im Mutterland Kohle, die in der Kolonie nicht vorhanden war. Bostoner Händler fingen nun an, die Kohle von den nördlichen lebenden Franzosen zu kaufen – aber diese Situation war sehr unbefriedigend.

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New-Schottland, Karte von 1733. (http://www.mwlandry.ca)

Als sich kriegerische Auseinandersetzungen, die auch im Zusammenhang mit dem Pfälzischen Nachfolgekrieg standen auch in Nordamerika ausweiteten, sprachen sich britische Offiziere dafür aus, den Franzosen die Steinkohlevorkommen abzuluchsen. So sah dann der Friede von Utrecht 1713 vor, dass genau das Gebiet englisch wurde. Aus der französischen Kolonie wurde eine englische. Die Franzosen blieben dort leben, aber die Gruben gingen peu à peu in englischen Besitz über.

Die am Cap Breton waren die ersten durch Europäer ausgebauten Steinkohlevorkommen auf dem amerikanischen Kontinent. Einmal eingenommen, sicherten sie die britische Herrschaft – erst jetzt konnten in Boston Waffen hergestellt werden. Kohle musste nun auch nicht mehr teuer aus England importiert werden – vielleicht ein erster Schritt hin zu einer größeren Unabhängigkeit der Siedler von der Krone in London…

Der Gesamt Artikel ist frei online zu lesen bei Francia (43, 2016). Die Zeitschrift erscheint im Jan Thorbecke Verlag im Druck und als E-Book.

 

Die vollständige Literaturangabe lautet:
Helge Wendt, Kohle in Akadien. Transformationen von Energiesystemen und Kolonialregimen (ca. 1630–1730). In: Francia 43 (2016), S. 119–136.

Das Archiv mit der schönsten Aussicht: Propaganda Fide, Rom

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Der Petersdom von der Terrasse des Archivs fotografiert (©Helge Wendt)

Den schönsten Blick auf den Petersdom hat man vom Gianicolo. Auf dem Janushügel liegt auch das Archiv der Propaganda Fide, ein Ableger der Vatikanischen Archive. Hier habe ich einige Wochen lang für meine Doktorarbeit geforscht, denn im Archiv befinden sich die Berichte der katholischen Missionare and die Kongregation. Die Missionare wurden einst von der Kongregation ausgesendet, arbeiteten dann in den verschiedenen Weltgegenden, in denen es keine richtige Kirchenstrukturen gab und wo die „Heiden“ zum Katholizismus bekehrt werden sollten. Von dort aus schickten sie ihre Berichte zurück nach Rom. Natürlich sind die Berichte nicht immer Tatsachenberichte. Sie sind selbst schon durch die Mühlen der Missionsorganisation gegangen. Sie wurden auch in der Propaganda selbst bearbeitet, bevor sie dann abgeheftet wurden.

Spannend ist das Archiv aber trotzdem: der Bestand ist äußerst vielfältig. Zum Beispiel zeigen sich die unterschiedlichen Meinungen von Missionaren darüber, ob die „jungen“ katholischen Gemeinden vielleicht eigenständig werden könnten. Eine andere Frage war, ob in den Missionen vielleicht „Einheimische“ zu Bischöfen geweiht werden könnten.

Und natürlich finden sich im entstehenden Weltkatholizismus des 18. und 19. Jahrhunderts bereits die Spannungen, die auch heute noch in der römischen Kirche diskutiert werden: welche Stellung haben Nichtkatholiken? Welche Familienstrukturen sind erlaubt oder werden geduldet? Wie lässt sich kulturelle Vielfalt religiös einheitlich interpretieren?

Nicht nur wegen der Aussicht also, ist das Archiv der Propaganda Fide auf dem Gianicolo eine tolle Erfahrung gewesen.

Die Ergebnisse meiner Forschung habe ich im Buch Die missionarische Gesellschaft veröffentlicht.

Das Alte im Neuen: Aberdeen University Library, Special Collections Center

The Sir Duncan Rice Library, University of Aberdeen, Scotland

Es ist eine schöne Erfahrung, wenn es gelingt, Experten zu überraschen. Als ich mich 2015 auf eine Ausschreibung der Sir Duncan Rice Library in Aberdeen bewarb, gelang mir das. Ich hatte entdeckt, dass in der dortigen Abteilung für Handschriften und alte Drucke ein gewisser Dr. David Skene in den 1750er und 1760er Jahren etwas über Steinkohle geschrieben hatte. Ich war ganz unbedarft an die Sache gegangen, kannte weder viel über die Geschichte des schottischen Steinkohlebergbaus und nichts über die Geschichte der Stadt Aberdeen und der Familie Skene. Ich erhielt das Forschungsstipendium und konnte im Februar 2016 zum ersten Mal in die Granitstadt zwischen Deen und Don fliegen.

Kings College, University of Aberdeen

Die Universitätsbibliothek von Aberdeen ist eindrucksvolle Architektur! Der spielerisch gestaltete, grüne Kubus überragt die ansonsten von grauen Granit- oder Betongebäuden dominierten Stadt. Ehrfürchtig lief ich am ersten Tag an den alten Colleges vorbei, der Sir Duncan Rice Bibliothek immer näher.

David Skene war ein Arzt aus und in Aberdeen, der von 1731 bis 1770 lebte. Er studierte Medizin in Edinburgh und praktizierte ab ca. 1758 ausschließlich in Aberdeen. Einige seiner medizinischen Schriften sind einigen Experten der schottischen Aufklärung bekannt. Ein wenig weiß man auch über sein Interesse an Botanik, über seine Kontakte mit der Royal Society in London und mit dem schwedischen Naturforscher Linné. Soweit wie nichts hat man bisher über sein Interesse an Steinkohle geforscht, über die er mehrere Manuskripte verfasste. Diese Manuskripte entdeckte ich im Katalog der Special Collection, wo außerdem noch Mitschriften aus Chemievorlesungen, Berichte von Besuchen in Steinkohlebergwerke und eine Skizze über eine Naturgeschichte der Steinkohle zu finden sind.

In insgesamt 10 Tagen Arbeit, transkribierte ich die Funde. Erste Ergebnisse stellte ich während meines zweiten Aufenthalts Ende Februar 2017 in der Sir Duncan Library vor. Meine Erkenntnisse werden nun ein Teil meiner Arbeit zur Geschichte des Wissens über Steinkohle im 18. und 19. Jahrhundert.